Karl Sigmund beleuchtet in „Sie nannten sich Der Wiener Kreis“ die weltweit wohl einflussreichste Denkergruppe des beginnenden 20. Jahrhunderts, in der sich Naturwissenschaftler und Philosophen zusammenfanden.
29.05.2015 | 18:22 | Von Rudolf Taschner (Die Presse) | Print-Ausgabe, 30.05.2015
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Von einem solchen Zauber dürften die ersten Denker Griechenlands beflügelt gewesensein, als sie die von Homer und Hesiod überlieferten Mythen als Fantastereienbrandmarkten, als sie den Aberglauben an Naturmächte und Dämonen verwarfen, als sie sich anschickten, den Kosmos mit dem Denken zu erfassen. Die Vorsokratiker genannten ersten griechischen Naturphilosophen schöpften bar jeder Tradition aus dem Vollen: Vor ihnen gab es niemanden, der ihnen glich. Sie konnten das freie Feld des Denkens nach Gutdünken ungehindert beackern. Allerdings, wie sperriges Gestein im Feld tauchten sogleich Widersprüche auf: Wenn alles fließt, wie Heraklit behauptet, kann es nichts Festes geben, das dem Denken Orientierung verleiht; dem ewigen Wandel ausgeliefert, verliert es an Halt. Wenn alles konstant ist, wie Parmenides behauptet, wennes kein Entstehen, kein Vergehen gibt, sind wir dem Phänomen der Veränderung buchstäblich sprachlos ausgeliefert. Kaum waren die Vorsokratiker den Absurditäten der griechischen Götter mit ihren Intrigen und Heucheleien entflohen, holten sie Widersprüche ein, die anscheinend beim Versuch, den Kosmos denkend zu erfassen, unvermeidlich sind.
Einen ähnlichen Zauber des Neubeginns muss René Descartes beflügelt haben, als er eines Abends behaglich mit einem Glas Rotwein in der Hand vor dem Kamin saß und sich überlegte, dass alles, was er empfindet, Trugbild oder Traum sein könnte, dass sich an allem zweifeln ließe.
Und plötzlich fand er den archimedischenPunkt eines neuen Anfangs von Philosophie: Den aus seiner Sicht unwiderlegbaren Satz, dass er sicher zweifelt, wenn er zweifelt. An seinem Zweifel selbst ist nämlich nicht zu zweifeln. Es ist bezeichnend, dass die Vorlesungen in Philosophie an amerikanischen Universitäten üblicherweise nicht bei der Antike oder bei der Scholastik, sondern bei Descartes den Ausgangspunkt nehmen.
Trotzdem blieb der Ansatz des Descartes nicht unwidersprochen. Denn sein Zweifel verlangt als Voraussetzung doch etwas, was zu bezweifeln ist, also kann der Zweifel selbst nicht den Anfang und Ausgangspunkt der Philosophie bilden. Bezweifelt werden Sinneseindrücke, Empfindungen. Darum sei, so behaupten die Empiristen, von ihnen auszugehen. Unabhängig davon, ob sie Wahrheit vermitteln oder täuschen, sind sie es doch, die jedem Denken vorauseilen. Die Rationalisten, die Gefolgsleute des Descartes, verstanden es jedoch gut zu kontern: Wird der Sinneseindruck, die Empfindung zur Sprache gebracht, ist das, worüber man spricht, nicht mehr der Sinneseindruck oder die Empfindung selbst. Wie können diese dann für das Denken den Ausgangspunkt bilden? Und wie einst bei den Vorsokratikern verfangen sich auch die Philosophen der frühen Neuzeit in scheinbar unlösbaren Widersprüchen.
Es war die Reichshaupt- und Residenzstadt der Doppelmonarchie, wo man Anfang des vorigen Jahrhunderts einen Nachhall dieser Auseinandersetzung vernahm. Mit unerbittlicher Strenge versuchte Ernst Mach, der um 1900 neben Ludwig Boltzmann bedeutendste Physiker und Philosoph an der Universität Wien, als Empirist reinsten Wassers den gesamten Kosmos auf empirische Daten zu reduzieren. Das „Hypotheses non fingo“ des Isaac Newton, den Verzicht auf bloße Annahmen, nahm Mach bitter ernst. Eine dieser Annahmen, die der Erfahrung und dem Experiment vorausgehen, war damals, dass Materie aus Atomen bestünde – die ganze Chemie gründet seit John Dalton darauf. „Ham's scho an's g'sehn?“, fragte Mach im breiten Wienerisch, wenn ihm jemand mit der Hypothese kam, Atome gäbe es wirklich. Ludwig Boltzmann aber brauchte unbedingt Atome als Beleg für seine Statistische Mechanik, mit der thermodynamische Prozesse ihre Erklärung finden.
Dieser Kontroverse zum Trotz respektierten Boltzmann und Mach einander und waren sich jedenfalls darin einig, dass die moderne Naturwissenschaft die klassische Philosophie überflügelt. Hier sind völlig neue Ideen gefragt. Doch weder Mach, der nach einem Schlaganfall seiner geistigen Kräfte weitgehend beraubt war, noch Boltzmann, der in einem Depressionsschub in Duino seinem Leben ein Ende bereitete, war es vergönnt, diesen Anfang zu setzen.
Die Verlockung, mit der Philosophie wieder ganz von vorn beginnen zu können, überdauerte die Hingänge von Mach und Boltzmann, überdauerte auch die politischen,gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenbrüche, verursacht durch den Ersten Weltkrieg. Der Mathematiker Hans Hahn, der ihm freundschaftlich unddurch Heirat mit seiner Schwester zugleich verwandtschaftlich nahestehende Nationalökonom Otto Neurath und der auf Hahns Betreiben nach Wien berufene Philosophieprofessor Moritz Schlick waren von einem unbezwingbaren Stimulus erfüllt: Sie schicken sich an, die klassische Philosophie, insbesondere die Metaphysik radikal infrage zu stellen. Die umwälzenden Erkenntnisse Albert Einsteins und Max Plancks in der Physik zwingen sie förmlich dazu. Wie einst die Vorsokratiker, wie einst Descartes sind sie von der Mission erfüllt, nur das klare, logische Denken zuzulassen und diesem außergewöhnliche, noch nie da gewesene Bahnen zu erschließen.
Euklid lehrt, dass drei nicht auf einer gemeinsamen Geraden liegende Punkte einen Kreis definieren, auf dem sie liegen. Hahn, Neurath und Schlick symbolisieren diese dreiPunkte, durch die man sich einen Kreis, den „Wiener Kreis“ gezogen denken darf. Die intellektuell aufregende Geschichte dieses Wiener Kreises, dem in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts neben den drei Protagonisten unter anderen Rudolf Carnap, Herbert Feigl,Philipp Frank, Olga Hahn-Neurath, Victor Kraft, Karl Menger, Kurt Reidemeister, Friedrich Waismann angehört haben und der durch seine Besucher Willard Van Orman Quine und Alfred Jules Ayer die spätere Philosophietradition Großbritanniens und der Vereinigten Staaten prägen sollte, erzählt Karl Sigmund akribisch und zugleich mitreißend, stichhaltig und zugleich einfühlsam in seinem Buch „Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rand des Untergangs“.
Wie kaum ein anderer ist Karl Sigmund für dieses Thema prädestiniert: Schon als Student der späten Sechzigerjahre hörte er, Seite an Seite mit Peter Weibel, Vorlesungen von Bela Juhos, dem Einzigen aus dem Wiener Kreis, der damals noch am Philosophischen Institut vortrug. Später, als Professor für Mathematik an der Universität Wien, arbeitete er viele Jahr lang in einem Büro, das am selben Gang lag wie der Sitzungsraum des Wiener Kreises, und wurde Stammgast in den Kaffeehäusern, in denen sich nach den Sitzungen Hahn, Neurath, Schlick und die anderen trafen. Fast täglich führte Sigmunds Weg über die Strudlhofstiege, mit ihren Assoziationen an das von Doderer beschriebene Wien des frühen 20.Jahrhunderts. Natürlich hat die Universität Wien, die im Rahmen ihres 650-Jahr-Jubiläums in einer Ausstellung des Wiener Kreises gedenkt, sich an Karl Sigmund mit der Bitte gewandt, er möge diese zusammen mit Friedrich Stadler kuratieren. Es liegt im Wesen einer solchen Ausstellung, dass dem Umfeld des Wiener Kreises breitester Raum gegeben wird.
Dies ist auch bei dem vorliegenden Buch der Fall: von Einstein und seinen Wiener Kollegen, die wesentliche Beiträge nicht nur zur Relativitätstheorie, sondern auch zur Quantentheorie der Atome geliefert haben, ist genauso die Rede wie von den Literaten und Künstlern wie Robert Musil, Hermann Broch, Oskar Kokoschka, Adolf Loos und vielen anderen, die auf ihre Weise diesem neuen Denken nachzuspüren versucht haben, bis hin zu Hans Nelböck, dem verblendeten Mörder Schlicks, der mit seinem Pistolenschuss für den endgültigen Ausklang des Wiener Kreises gesorgt hat.
Natürlich steht in Sigmunds Buch jener Philosoph im Zentrum, der wohl der bedeutendste seiner Zunft im 20.Jahrhundert war: Ludwig Wittgenstein. Will man sich beim Wiener Kreis der geometrischen Sprache bedienen, stellt Wittgenstein zweifellos dessen Mittelpunkt dar. Denn sein „Tractatus logico-philosophicus“ wurde jahrelang eingehend von den Mitgliedern des Kreises studiert, stellte er doch das Paradigma der neuen Philosophie dar, die völlig anders als alles bisher Dagewesene ist. „Die Welt ist, was der Fall ist“ – mit diesem lapidaren Satz beginnt der Tractatus und heischt sich an, auf wenigen Seiten alle Probleme der Philosophie zu lösen, sofern diese der rationalen Beschreibung zugänglich und lösbar sind. All dies ohne Bezug auf Platon oder Augustinus oder Kant, sondern mit dem gleichen souveränen Anspruch an Originalität, wie ihn einst die Vorsokratiker oder Descartes hatten.
Diese selbstbewusste Haltung Wittgensteins imponierte den Mitgliedern des Wiener Kreises. Immer wieder bemühten sie sich, Wittgenstein für ihren Zirkel zu gewinnen. Allein, er wollte von alldem nichts wissen, nichts mit Hahn und der übrigen Clique zu tun haben. Genauso, wie der Mittelpunkt eines Kreises nicht auf ihm liegt, hat es Wittgenstein abgelehnt, sich zum Wiener Kreis zu gesellen – und war mit dieser Haltung, was er immer sein wollte: gnadenlos konsequent. Denn in ihrer Euphorie übersahen die Mitglieder des Kreises, dass Wittgenstein dessen Programm, nur das Unbezweifelbare und auf die Logik Rückführbare als Gegenstand von Untersuchungen zuzulassen, verachtete. „Alle Sätze der Logik sagen aber dasselbe. Nämlich nichts“, schrieb er als Satz 5.43 im „Tractatus“. Was Wittgenstein wirklich interessiert hat, war das, was über den rationalen Diskurs hinausgeht, worüber man nicht sprechen kann, was sich bloß zeigt – und genau dies haben die an den Wiener Kreis Gehefteten verabscheut.
Im Gegensatz zu Wittgenstein bemühte sich Karl Popper, in den Wiener Kreis aufgenommen zu werden. Er fand keinen Einlass. Selbst Sigmund, der für fast alle von ihm mit großer Sorgfalt beschriebenen Protagonisten warme Empathie spüren lässt, musste in seinem Buch Popper wohl oder übel so vorstellen, wie er war: anmaßend und von sich selbst maßlos überzeugt. Mit seinem von Sokrates entlehnten Diktum „Ich weiß, dass ich nichts weiß, und nicht einmal das“ verbarg er seine Hybris mit getarnter Bescheidenheit bloß kokett. Die beiden Renegaten Poppers, Thomas Kuhn und Paul Feyerabend, entlarvten dessen Anspruch, trotz seiner Nichtzulassung zum Wiener Kreis dessen Programm mit seiner Falsifikationsidee in eine neue Richtung gelenkt zu haben, als verfehlt.
Viel interessanter ist ein zweiter Protagonist in Sigmunds Buch, der dem Wiener Kreis nahestand, aber über ihn hinaus in andere Richtungen gedacht hat, ähnlich wie es in der Geometrie bei der Tangente an einem Kreis der Fall ist: Kurt Gödel. Schweigsam nahm er an Sitzungen des Wiener Kreises teil, dachte sich seinen Teil und ließ die anderen reden. Dieser tiefe mathematische Denker war überzeugt, dass die Verachtung der Metaphysik durch den Wiener Kreis einen Irrweg darstellt. Er fühlte sich nicht „zu irgendeinem Aspekt der intellektuellen Atmosphäre des 20.Jahrhunderts zugehörig“. Leibniz war sein Idol. Sein Blick richtete sich auf eine Zukunft, die einen ganz anderen Anfang, einen neuen Zauber versprach.
Karl Sigmund
Sie nannten sich Der Wiener Kreis
Exaktes Denken am Rand des Untergangs. 362 S., zahlr. Abb., €20,60
(Springer Spektrum Akademischer Verlag, Berlin)
Presseaussendung der Universität Wien
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