Erich Heller über Ludwig Wittgenstein

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„Was für eine Art Mensch war Ludwig Wittgenstein? Will man eine Antwort, die schnell bei der Hand ist, eine voluminöse, undeutliche und wahre: Ein Mann von seltenem Genie. Unter allen Worten, die sich der Definition entziehen – also wohl einfach unter allen Worten – tut dies das Wort ,Genie’ am hartnäckigsten. Wie anders aber soll man einen Mann bezeichnen, der ein Logiker von höchstem Rang war; ein Stilist, dessen Prosa schön ist durch intellektuelle Passion und disziplinierte Klarheit (vielleicht bedarf's nur großen Talents, um in irgendeiner anderen Sprache solche Prosa zu schreiben: im Deutschen aber bedarf's der Genialität); ein Ingenieur von vielversprechenden Fähigkeiten, der während der kurzen Zeit, in der er's war, nicht Unbeträchtliches leistete; der Architekt eines vorbildlichen Wohnhauses; ein begabter Bildhauer; ein Musiker, der, hätte er diesen Beruf gewählt, wahrscheinlich ein außerordentlicher Kapellmeister geworden wäre; ein Einsiedler, der monatelang die strengsten Übungen des Denkens und der Einsamkeit ertrug; ein Reicher, der die Armut wählte; ein Professor in Cambridge, der dachte und lehrte, aber weder dozierte noch dinierte. Auch war er ein Österreicher, der sich die englische Philosophie untertänig machte.“ (Erich Heller: Ludwig Wittgenstein. Unphilosophische Betrachtungen. In: Merkur, Heft 142, 1959)

„Wie Weininger wußte auch Wittgenstein, daß Denken nur als Akt des sittlichen Handelns Geltung hat, und der Gedanke, der keine Brücke ist vom Persönlichsten zum Überpersönlichsten, nur ein Schemen ist und schales Spiel; wie Adolf Loos verwarf er allen Zierat und alle Kostümfestlichkeiten des Geistes und forderte die Konzentration auf die reinsten Linien der intellektuellen Architektur; wie Karl Kraus glaubte er an die unauflösliche Verbundenheit aller Formen des Lebens, des Denkens und Fühlens mit den Formen der Sprache (,Ethik und Ästhetik sind Eins’, schrieb Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus – und es gibt keine vollkommenere Formel für das künstlerische Credo von Karl Kraus); und was Kafka und Musil betrifft, so wäre ein Vergleich zwischen ihrer Art zu schreiben (und also zu erkennen) und derjenigen Wittgensteins gewiß ebenso ergiebig wie der Vergleich zwischen ihm und Lichtenberg, und wäre umso aufschlußreicher, als da von ,Einfluß’ nicht die Rede sein kann, abgesehen von den anonymen und eigentümlich österreichischen Einflüsterungen jenes Zeitgeists, welcher sogar eine Familienähnlichkeit schuf zwischen den logischen Strukturen, Motiven und Intentionen von Wittgensteins Tractatus und Schönbergs Musiktheorie: denn es ist auch Schönbergs Überzeugung, daß die ,Sprache’ seines Mediums, der Musik, das höchste Niveau der logischen Notwendigkeit erreichen müsse, wo sie vor allen Zufällen und Willkürlichkeiten des Gefühls bewahrt bliebe.“ (Erich Heller: Ludwig Wittgenstein. Unphilosophische Betrachtungen. In: Merkur, Heft 142, 1959)

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